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ORTE UND ZEITEN / TEMPI E LUOGHI
Beauftragt vom Cantiere Internazionale d´Arte und vom Ensemble L´art pour l´art zum Thema des X. Cantiere "Viaggio a Italia" eine Komposition zu schreiben, stellte sich mir zuerst weniger eine musikalische als eine journalistische Frage: Wie ist der aktuelle Stand der Betrachtungen beider Länder in jüngsten Reiseberichten.
Auf der Suche nach Literatur stieß ich auch auf ein Buch über italienische Lyrik der Gegenwart, in dem sich ein Gedicht aus dem Jahre 1918 befand, das mir die entscheidende Anregung zu dem Zyklus gab: "Girovago" von Guiseppe Ungaretti. Es brachte mich auf den Gedanken, Stimmen zu sammeln, die sich mit dem Reisen, oder besser mit der Wanderschaft durch die Orte und Zeiten beschäftigen, Stimmen, die ankommen, verweilen und verlassen in einem dauernden, fließenden Unterwegs. Ich hatte dabei die Konstruktion eines Kirchenfensters vor Augen, in dem viele Glasmosaike mit ihren eigenen Themen, einmal zusammengesetzt, ein Hauptthema bilden sollten.
"Girovago" gab mir Einblick in eine Literatur, die geprägt ist von Überwindungen veralteter Formen und verbrauchter Ausdrucksmittel. Gleichzeitig stehen sie in unmittelbarer Beziehung zur politischen Situation der Vorläufer, Höhepunkte und bis in unsere Tage gehenden Ausläufer des Faschismus. Die moderne italienische Literatur ist eine im Kampf geborene.
Meine eigene "Viaggio" wurde eine Reise in eine Kultur des Widerstands, die mich deshalb so sehnsüchtig machte, weil ich sie in dieser Breite und Vielfalt hier nicht finden konnte. Ich entdeckte nur wenige Stimmen in meinem Land, und allen war ein seltsamer Fluchtgedanke gemeinsam, weniger ein Hang zum Verweilen als zum Verlassen. Es war eine Lyrik, der das Erinnern fehlte, so als ob es keine Vergangenheit gäbe, nichts, was es zu überwinden gäbe, und in der dennoch die Erinnerung wie ein schwarzer Schatten auftauchte, wie ein Verfolger.
Die italienischen Gedichte hingegen verweilen in Geduld. Sie können warten, bis es ganz still wird, um dann mit großer Behutsamkeit Wahrheiten herauszuschälen, die Aufruhr auslösen.
Ankommen, verweilen, verlassen: der Gedanke einer Odyssee durch Orte und Zeiten auf der Suche nach dem Genuß eines "einzigen Augenblicks des anfänglichen Lebens"; der Gedanke, um die Freiheit für diesen Augenblick gebracht zu werden, weil es Orte und Zeiten der Finsternis und Täuschung sind, Orte, die nicht glücklich machen und Zeiten, die uns in teuflischer Weise Glück vorgaukeln; der Gedanke, daß uns nichts anderes bleibt, als von diesem Leiden zu berichten, in der Hoffnung, betroffen zu machen; dieser schmerzhafte Gedanke am Ende der Reise (die nur wieder eine Zwischenstation ist), hinkend, "das leicht Gerettete" auf den Schultern, anzukommen: Dieses Wenige an Widerstand auf den Schultern, was wir doch brauchen, um den "Augenblick anfänglichen Lebens" genießen zu können - dieser aus Mosaiken bestehende Grundgedanke nahm in der folgenden Zeit musikalische Gestalt an.
Zuerst zeitlich in einer doppelten Tempovorstellung: Es gibt ein Tempo in einer Bogenform, beginnend vom Stillstand zur Bewegung und zurück. Das zweite Tempo ist unabhängig von den Tempi der einzelnen Gedichte, die mit Unterbrechungen wiederum so angelegt sind, daß sie der Bogenform folgen. So wie die Lyrik in ihrer Zusammenstellung einem epischen Gedanken folgt, ist die Tempovorstellung der Musik ebenfalls episch-großräumig. Das Tempogesetz gibt mir die Freiheit, mich musikalisch so verschieden wie möglich auszudrücken. Es gibt mir die Freiheit eines neuen Ausdrucks, eines neuen musikalischen parlandos, denn ich will Bericht geben. Der journalistische Gedanke geht durch die Musik. Die Musik geht auf ihn ein und erzählt, in Abhängigkeit von den Gedichten und doch so abhängig, wie eben Musik sein kann, seine eigene Geschichte, die nun nicht mehr erklärbar ist und gehört werden muß.
( Programmheft zum Konzert des Ensemble L´art pour l´art, Hamburg 1986)
Mehr Infos: VOKAL-INSTRUMENTAL "Orte und Zeiten / Tempi e Luoghi "
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